530
— In Betreff der auf dem Umweg über Kopenhagen nach Berlin gelangten Nachricht, der diesseitige Botschafter in Rom, Herr v. Keudell sei für die Stellung eines Vicekanzlers in Aussicht genommen, heißt es, daß sie von Anfang bis zu Ende voll st än big falsch sei. Der Reichskanzler, Fürst Bismarck, denkt erstens nicht daran, seine amtliche Machtfülle durch die Wiederbesetzung des Postens eines Vicekanzlers zu beschränken und zweitens würde auf Herrn v.Keudell, wenn wirklich eine solche Absicht bestände, nicht die Wahl fallen. Derselbe ist als Diplomat, der sich mit Eifer und Geschick auf dem ihm vorgeschriebenen Wege bewegt, nicht ohne Verdienst, jedoch dürfte er kaum die besonderen Eigenschaften, welche zur Ausfüllung einer der schwierigsten Stellungen erforderlich sind, besitzen.
— Der Minister Herr v. Puttkammer hat sich zum Fürsten Reichskanzler nach Friedrichsruhe begeben. Die Reise soll den Zweck haben die Grundzüge der parlamentarischenWinterrampagen festzustellen, welche eine besonders interessante zu werden verspricht, da während derselben die vielbesprochenen socialpolitischen Gesetzentwürfe auf die Tagesordnung gestellt werden sollen.
— Der Minister Maibach wird, wie verlautet, sich aus Gesundheitsrücksichten veranlaßt sehen, in kürzester Zeit seine Entlastung zu nehmen. Im Interesse der Staatsverwaltung wäre der Verlust dieser — auch von politischen Gegnern anerkannten — eminenten Sachkenntniß und Arbeitskraft des Ministers Maibach, an welche leider bei dem Umfang der auf ihm lastenden Geschäfte zu hohe Anforderungen gestellt waren, sehr zu bedauern.
— Betreffs der im Explosionsraum des Polizeipräsidial - Gebäudes in Frankfurt a. M. Vorgefundenen Bleikugeln ist nunmehr fest- gestellt, daß es keineswegs mit einem Sprengstoff gefüllte Hohlkugeln sondern Vollkugeln waren. Der Regierungspräsident v. Wurmb besichtigte gestern das beschädigte Gebäude, mit dessen Renovirung begonnen worden ist.
— Die neuesten Nachrichten aus Oldenburg erklären mit aller Bestimmtheit , daß die von einigen Berliner Blättern gebrachten Meldungen über den Umfang der anläßlich der Affaire Steinmann entstandenen Straßenaufläufe, sich starker Uebertreibungen schuldig gemacht hätten. Es sei durchaus unwahr, daß die Polizei mit einem Hagel von Steinen empfangen worden wäre und daß viele Verhaftungen hätten vorgenommen werden müssen. Thatsächlich sei überhaupt nur eine Verhaftung geschehen und die Demolirung des von dem Major v. Steinmann bewohnten Hauses habe sich darauf beschränkt, daß drei Fensterscheiben eingeworsen wurden. Die in jenen Meldungen enthaltende Schilderung der Stimmung unter der Oldenburger Bevölkerung entspreche ebenfalls nicht der wahren Sachlage; es sei vielmehr eine vollkommene Beruhigung der Gemüther eingetreten und von einem „glühenden Preußenhasse", welcher der Bevölkerung angedichtet werde, sei weder jetzt noch früher etwas bemerkt worden. Die Anhänglichkeit und Ergebenheit an das deutsche Kaiserhaus sowie der echt nationale und patriotische Sinn des Herrscherhauses sowohl als auch des Volkes in Oldenburg sei hinlänglich bekannt.
Frankreich.
— Das französische Kabinet ist aus dem parlamentarischen Kampfe, der aus Anlaß der Interpellation über die Tonkinfrage entbrannte, glänzend als Sieger hervorgegangen. Nach einer ungemein hitzigen Debatte, an welcher von Seiten der Regierung der Ministerpräsident Fern), der Kriegsminister Campenon, auch der Minister des Aeußeren Challemel - Lacour sich betheiligten, und von der Opposition besonders Clemenceau das Wort führte wurde die von Gatineau beantragte einfache Tagesordnung mit großer Majorität abgelehnt, dagegen das von Paul Bert beantragte Vertrauensvotum, welches besagt, daß die Kammer die von der Regierung zur Wahrung der Interessen und der Ehre Frankreichs ergriffenen Maßregeln billige mit 339 gegen 160 Stimmen angenommen. Diese Abstimmung läßt folgern, daß der Ausbruch des befürchteten Krieges mit China nicht mehr zu verhindern sein wird, falls England nicht im friedlichen Sinne — und zwar erfolgreich — intervenirt.
— Wir vernehmen noch, daß der Minister Challemel - Lacour aus Gesundheitsrücksichten binnen Kurzem seine Entlassung zu nehmen beabsichtigt. Damit würden die Aussichten der Gambetisten steigen.
— Gegen den früheren Kriegsminister Thibaudin stehen wegen eines von ihm nach Toulon geschriebenen Briefes, in welchem er seine früheren Kollegen im Kabinet kritisirt, disciplinarische Maßregeln bevor.
Oe st erreich.
— Von Seiten der deutschen Studenten Wiens fanden in den letzten Tagen höchst tumultuarische Demonstrationen gegen den czrchenfreundlichen Professor Maaßen statt. Derselbe wurde, als er seine Vorlesung beginnen wollte, durch tobende Pereatrufe verhindert, sich verständlich zu machen. Alle Versuche des beliebten Dekans und anderer Professoren der Universität waren nicht im Stande, dem Tumulte ein Ende zu machen. Professor Maaßen mußte schließlich, von dem Dekan begleitet, das Universitätsgebäude verlassen, ohne seine Vorlesung gehalten zu haben.
England.
— Das Packetboot „Holyhead" kollidirte in der irischen See mit dem deutschen Barkschiff „Alhambra", wobei von letzterem Schiffe 13 Personen ihr Leben verloren.
Tages - Neuigkeiten.
Nagold, 1. Nov. Der hiesige Stadtgemeinderath hat, wie es scheint, auf Betreiben des Stadtförsters, welcher, früher im Staatsdienst, nun wieder in denselben zurückzukehren beabsichtigt, den Beschluß gefaßt, die Gemeindewaldungen mit dem umfangreichen Areal von 1125 im in Staatsbeforstung zu geben und hofft hiedurch eine jährliche Ersparniß von ca. 1000 ^ gegenüber der seitherigen Verwaltung zu erzielen. Die Ansicht der Bürgerschaft über diesen Beschluß ist eine getheilte, der Beschluß findet bei den Freunden der Gemeindeselbstständigkeit keinen Anklang, es wäre denn, daß der Versuch mit der Staatsbeforstung auf vorläufig nur 2 Jahre beschränkt würde, wie dies in Böblingen ebenfalls gestattet worden sein soll, und daß die Regierung hiezu ihre Genehmigung geben würde.
>V. 6. Stuttgart, 2. Nov. Die Affaire Bommas nimmt immer größere Dimensionen an. Anfangs sprach man nur von einem Defizit von 3000 -M, nachher wurden es schon 20 bis 30,000 ^ und man glaubte in Folge der Aussetzung einer Belohnung von 500 an die große Summe, obschon man sich wunderte, daß ein bloßer Postpraktikant so bedeutende Summen solle unterschlagen können, ohne daß man darauf aufmerksam wurde, da man sich eine raschere und wirksamere Controlirung vorstellte. Heute will nun das N. Tagbl. von über 100,000 wissen, von einigen Werthpacketen von über 40,000 -,16 und gar einem von 75,000 , welch
letztere aber auf einen geringeren Werth deklarirt, weil rückversichert gewesen. Einem Zimmergenossen, welcher ihn im Blitzzug bis nach Ulm begleitete, habe der ungetreue Postbeamte die Absicht geäußert, sich nach Triest zu begeben. Der Beamte soll, wie wir hören, mit 1.50 Taggeld angestellt gewesen sein und zwar an einem Schalter, an dem große Summen durch seine Hände lausen mußten. Die Versuchung liegt in solchen: Falle etwas näher als bei fest und mit einem entsprechenden Gehalt Angestellten.
Stuttgart, 4. Nov. Gestern Nachmittag balgten sich einige Knaben von 6—7 Jahren, als sie aus der Schule nach Hause gingen, in der Neckarstraße herum. In der Nähe des Hauses wurde das 6jährige Söhnchen jdes bei Hallberger beschäftigten Abeiters Hochberger, Cannstatterstraße 123 wohnhaft, vom Trottoir geworfen und fiel hin. In demselben Augenblick ging ein mit Sand beladenes Fuhrwerk über ihn weg. Dem Kinde wurde die Hirnschale total zerdrückt, so daß es sofort eine Leiche war. Der Schmerz der hinzukommenden Mutter war um so größer, da dieselbe erst kürzlich ein Kind in den Fluthen des Neckars verloren hat.
Pforzheim, 1. Nov. Am letzten Sonntag ist der hies. Fabrikant A. K. das Opfer einer ruchlosen That geworden. Mitglieder der hies. Gesellschaft „Eintracht" hatten nämlich einen Ausflug nach dem württ. Orte Wiernsheim gemacht und fuhren Abends auf Leiterwagen durch das Dorf Pinache. Daselbst wurden sie mit Steinen derart beworfen, daß mehrere aus der Gesellschaft erheblich verletzt wurden. Dem Fabrikant K. wurde durch einen Wurf die Hirnschale in Stücke zerschmettert. Bei der vorgenommenen Trepanation wurden 16 Knochensplitter entfernt; das Leben des Verletzten ist aber noch nicht außer Gefahr. Die gesammte Einwohnerschaft ist über die Unthat empört.
Herz zum Schweigen bringen kann mit den Worten: „Steinfels ist ein gemeiner Verbrecher, ein Mörder." Es ist auch gut, daß es so gekommen ist. Ich glaube, ihr Herz wäre gebrochen in dem ungleichen Kampfe mit ihrem stahlharten, eigensinnigen Kopf."
„Ja, lassen wir sie nur", antwortete der Rentier, „sie wird's schon verarbeiten. Sie hat auch ein starkes Herz; aber mit der Aussicht auf eine gute Heirath wird es nun wohl für immer vorbei sein." —
6 .
Steinfels war in Untersuchungshaft abgeführt worden. Man hatte ihn, wie dies bei den beschränkten Verhältnissen des kleinen Ortes seit alten Zeiten Sitte rvar, in die nächste Kreisstadt gebracht, wo sich ein Polizeigewahrsam befand. Wir finden den schwergeprüften Mann, dem es nicht gelingen wollte, sich die Ruhe zu erhalten, deren er so dringend benöthigt zu sein glaubte, in seiner einsamen Zelle wieder, das kalte starre Antlitz in düsterem Sinnen auf die Wände seines Zimmers gerichtet. Es schien sich in seinem Aeußern nichts geändert zu haben. Nur sein Auge blickte noch finsterer unter den zusammengezogenen Brauen hervor, bitterer noch zuckte es um die festgeschlossenen Lippen, doch im Uebrigen verrietst nichts in seiner Haltung, daß er sich jener furchtbaren Schuld bewußt war, derenthalben man ihn seiner Freiheit beraubt hatte. Er glich einem Manne, der sich mit ruhiger Würde in sein Schicksal ergeben und das, was ihm bevorsteht, mit Geduld erwartet. —
Es war ein Heller, prachtvoller Oktobermorgen. Die Sonne warf einen freundlichen Schein durch das schmale vergitterte Fenster in die kleine Zelle des Gefangenen, welcher schon seit einer Stunde aufgestanden war
und in dem engen Raume auf und ab ging. Im Schlosse rasselte der Schlüssel des Kerkermeisters. Die Thür flog auf, und der Letztere trat in Begleitung eines Mannes, dessen Uniform ihn als einen Polizisten erkennen ließ, hinein. In dem Benehmen der beiden Beamten lag nichts von jener Schroffheit und befehlshaberischen Strenge, wie man sie den verurtheilten Gefangenen gegenüber so häufig anwendet. Sie zeigten sich höflich, achtungsvoll in ihrem Wesen.
„Ihr Verhör vor dem Untersuchungsrichter soll heute beginnen, Herr Steinfels", begann der Polizist. „Wollen Sie die Güte haben, mir zu folgen?"
Eine leichte, kaum merkliche Neigung des Kopfes war die einzige Antwort des Gefangenen.
Ueber eine Menge finsterer Corridore schreitend und nachdem sie eine Treppe aufwärts gestiegen waren, betraten die beiden Männer das Vorderzimmer. Der Assessor, welcher mit der Vernehmung des Gefangenen beauftragt, war ein schmächtiger, bleicher Mann mit tiefliegenden Augen. Seine eingefallenen Wangen, der schmale Brustkasten, das leiste Hüsteln verriethen den Schwindsuchts-Candidaten. Er warf einen forschenden Blick auf den Eingetretenen und wandte sich dann wieder seinen Papieren zu. Der Proto- collführer, ein junger Mann von blühender Gesundheit, bildete mit seinen lebhaften schwarzen Augen, den vollen Wangen und dem wohlgepflegten schwarzen Schnurrbärtchen einen auffallenden Gegensatz zu dem bleichen Assessor, von dem man indessen behauptete, daß er die verwickeltsten Untersuchungs- Angelegenheiten zu einem klaren und festen Resultate zu führen wisse.
(Fortsetzung folgt.)