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Thatsache aber ist es, daß Frankreich eine kriegerische Schlappe erlitten hat und zwar von dem schwachen unbekannten Tonkin. Die Eitelkeit der Nation , welche den Ruhm so sehr liebt, wird dadurch sicherlich verletzt sein. Hat doch die Kunde von der Niederlage, von der Tödtung des Commandan- ten des Operationskorps vorläufig einmal ausgereicht, den Parteihaß, den Fraktionshader in der Französischen Deputirtenkammer verstummen zu machen. Der Credit für eine ernstere kriegerische Aktion ist einstimmig bewilligt worden.
Aber Frankreich scheint nicht mehr Tonkin allein gegenüberzustehen. Ein mächtigerer, ernster zu nehmender Gegner erhebt sich gegen die Republik, das älteste Kaiserreich gegen die jüngste Republik. Nicht umsonst hat China seine Offiziere in Deutschland bilden, seine Kanonen von Krupp gießen, seine Kriegsschiffe in Stettin bauen lassen. Es scheint gewillt, eine recht ernste Nutzanwendung aus all' diesen Vorbereitungen und Rüstungen zu ziehen.
Man möge sich in Frankreich nur nicht darüber täuschen: China ist kein Tunis, und das China von heute ist nicht mehr jenes aus der Zeit des braven Paliko. Auch jenes Reich, das man zu verknöchertem Stillstände verurtheilt glaubte, ist in militärischer Hinsicht fortgeschritten. Von einem Tage zum andern scheint die Französische Politik sich plötzlich in einen kriegerischen Handel verwickelt zu haben, von dem man nicht wissen kann, welche Dimensionen er annimmt. Ein Französisch-Chinesischer Krieg wäre viel ernster zu nehmen, als ein Russisch-Chinesischer, denn der erstere müßte bei der Entfernung der kämpfenden Reiche einen acuten Charakter annehmen, während der letztere latent war. Auch ist es immerhin bedenklich, eine ohnehin im Innern schwache republikanische Negierung äußeren Abenteuern und den Schwankungen des Waffenglücks, einen in entlegenster Ferne streitenden Heeres preisgegeben zu sehen.
Die Chinesische Regierung ist entschlossen, die Tonkin-Expedi- tion mit Waffengewalt zurückzuweisen, sie hat bereits in den drei an Tonkin grenzenden Provinzen eine Armee aufgestellt, und der neu ernannte Oberbefehlshaber ist schon in Shanghai eingetroffen.
Selbst den für Frankreich günstigen Fall vorausgesetzt, wird es daher der größten Anstrengungen und gewaltiger Opfer an Blut und Geld bedürfen, um einen Erfolg zu erzielen, der zu diesem Aufwand an Mitteln in gar keinem Verhältniß stehen kann. Noch bedenklicher stellen sich die Folgen dieser Nnternehmung für Frankreich dar, wenn man in Erwägung zieht, wie durch dieselbe die politische Jsolirung der Republik in Europa vervollständigt wird.
Bei allen Angriffen, denen die Regierung Napoleon des Dritten seitens der Oposition ausgesetzt war, spielte das „Mexikanische Abenteuer" eine sehr hervorragende Rolle. Mit Recht warf man der Kaiserlichen Regierung die zwecklose.Vergeudung von Blut und Gut vor, die die dasselbe erfordert hatte. Nun herrscht seit dreizehn Jahren die Republik und seit geraumer Zeit spähen die Staatsmänner derselben nach der Gelegenheit aus, sie in ähnliche Abenteuer zu verstricken, wobei sie freilich die Hoffnung hegen, günstigere Erfolge zu erzielen. Wir dürfen hieraus wohl den Schluß ziehen, daß die Lust am Abenteuer dem französischen Volkscharakter angeboren und nicht blos die Wirkung einer zufälligen politischen Konstellation ist.
Die Ruhe Deutschlands, der Frieden Europas hat es nicht zu beklagen, wenn das unruhige Frankreich im fernsten Osten des östlichen Welttheils engagirt ist. Während Frankreich in Tonkin und China kämpft, könnte die Wacht am Rhein und an den Vogesen Gewehr bei Fuß stehen.
Stuttgart, 1. Juni.
48. Sitzung der Kammer der Abgeordneten. T.-O.: Vorlage betr. die Erhöhung der Feuersicherheit des König!. Hoftheaters durch bauliche Aenderungen desselben. Der Finanzkommissionsantrag, Berichterst. Frhr. v. Gültlingen, geht dahin: hohe Kammer wolle ohne jedes Präjudiz für den Rechtsstandpunkt die Zustimmung ertheilen, daß wenn die in der Vorlage bezeichnten Bauünderungen zur Erhöhung der Feuersicherheit des K. Hoftheaters in Stuttgart mit dem aus der Brandversicherungshauptkaffe zur Verfügung gestellten Betrag von 200,000 Mk. nicht ausführbar sein sollten, der Fehlbetrag bis zu 40,000 Mk. von den Staatskassen getragen werden. — Ein Gegenantrag von einer Anzahl Mitglieder der Linken lautet:
Die Regierungsvorlage als einen Eingriff in die wohlerworbenen Rechte Dritter abzulehnen und das Ministerium zu ersuchen: eine auf gleichmäßiger Vertheilung der Kosten beruhende Verständigung zwischen den 3 Interessenten: der Civilliste, der Staatskasse und der Gemeinde Stuttgart anzubahnen und auf Grund derselben eine Exigenz einzubringen. Frhr. v. Gültlingen begründete den Kommissionsantrag, worin wie in der Vorlage selbst hervorgehoben ist, daß der Gesammtvoranschlag der Bauausführungen, Einrichtungen rc. sich auf 359,500 Mk. belauft, wovon die Civilliste zum Voraus 135,500 Mk. angewiesen und zum Theil schon verwendet hat, daß also die Billigkeit als das Interesse des Staats die Verwendung der 200,000 Mk. aus der Brandversicherungshauptkasse schon für die Verwilligung der Regierung sprechen, zumalen die Civilliste die Schließung des Theaters anordnen könne, ohne daß dagegen etwas einzuwenden wäre, ferner der jährliche Zuschuß zur Unterhaltung auch 400,000 Mk. in Anspruch nehme.
Nach längerer Debatte wurde, nachdem der Abg. Leibbrand die Sache vom baulichen Standpunkt aus erläutert hatte, der Commissionsantrag mit Mehrheit angenommen. Schluß der Sitzung gegen 8 Uhr.
Tages - Neuigkeiten.
>V. 6. Stuttgart, 1. Juni. Seine Majestät der König ff heute von Bebenhausen zurück mit hohem Gefolge wieder hier eingetroffen > und hat zunächst im K. Residenzschlosse Wohnung genommen. Die Abreise nach Friedrichshafen dürfte nicht vor Mitte des Monats erfolgen.
Oeschelbronn, OA. Herrenberg, 31. Mai. Gestern Mittag entlud sich über unseren Fluren ein gräßliches Hagelwetter. Der Boden war von einer durchschnittlich wohl einen Schuh hohen Hagelschichte bedeckt. Großer Schaden wurde auch an den Obstbäumen angerichtet, welche Heuer so reichlichen Ertrag in Aussicht gestellt hatten. Mit uns wurden betroffen die Gemeinden Thailfingen, Hebringen, Mötzingen, Jesingen u. A. Leider war fast Niemand gegen Hagel versichert.
Rottweil, 1. Juni. In Folge der Tödtung eines verdächtigen Hundes, welcher mehrere Menschen und Thiere bei Unterrothenstein u. s. w. angefallen und gebissen hat und bei dessen Leichenöffnung sich sichere Zeichen der Tollwuth fanden, ist vom K. Oberamt von heute an auf 3 Monate Hundesperre hier und in einer Anzahl von Orten unweit Hausen o.
V. angeordnet.
Biber ach, 1. Juni. Eine hiesige achtbare Familie wurde gestern in großes Leid versetzt. Ein 6 Jahre altes Kind derselben litt seit mehreren Wochen an Fußgelenkentzündung, gegen welche innerlich Leberthran, äußerlich Karbolsäure verwendet wurden. Durch eine unglückliche Verwechslung bekam gestern vor Schlafengehen das Kind die letztere zum Einnehmen und war in wenigen Minuten eine Leiche. Die trostlosen Eltern werden allgemein beklagt. .
Frankfurt a. M., 1. Juni. Gestern Mittag kurz nach 12 Uhr I
brach in der „Deutschen Nähmaschinenfabrik" (früher I. i Wertheim) ein verheerendes Feuer aus, welches durch ein brennend weggeworfenes Streichholz entstanden sein soll. Anfänglich Wassermangel und ! der herrschende Nordostwind hinderte die rasche Löschung, so daß das östliche . und westliche Gebäude bis auf den Gießereiraum ausbrannten; der Zwischen- ! bau zwischen beiden wurde durch rasches Vermauern der Verbindungsthüren gerettet. Um 4 Uhr war das Feuer in der Hauptsache bewältigt. Die Fabrik ist beim Phönix dahier, ferner bei Gesellschaften in Leipzig und Stettin versichert. Damit die Arbeiter, 400—500 an Zahl, nicht brodlos werden, sollen schleunigst Schuppen errichtet werden, in welchen die Arbeit wieder j ausgenommen wird. ' .
Bregenz, 31. Mai. Unsere Stadt bietet heute ein Bild der Ver- s heerung. Früh um 3 Uhr entlud sich über die Stadt und die umliegenden i Höhepunkte, Pfänder und Gebhardsberg, ein gewaltiger Wolkenbruch; die . gedeckten Kanäle, die den Ort durchziehen, vermochten das Wasser nicht mehr ^ zu fassen und im Nu standen die Kirchgasse, Rathhausstraße, Kaiserstraße und die anstoßenden Gasthöfe, Verkaufsmagazine, Apotheke rc. im Wasser. Militär und Arbeiter entwickelten riesige Thätigkeit. Der Schaden ist sehr groß speciell für die Kommune, Kaufleute und Wirthe.
auf der Schwelle stand und mit einem gemischten Ausdruck von Furcht und Entsetzen auf die Leiche seines Herrn starrte.
Erzählen Sie genau, was Sie über die Sache wissen! und befleißigen Sie sich der äußersten Wahrheit!" mahnte der Kommissar.
Martin räusperte sich und warf sich in Positur. Mit der Miene eines Mannes, der sich plötzlich zu einer wichtigen Persönlichkeit erhoben sieht, begann er seinen Verricht. Er erzählte mit der äußersten Weitschweifigkeit, wie zuerst die Wilderer und sodann der Fremde gekommen seien, in welchem Letzteren die alte Liese sofort den Sohn vom Hause erkannt, weshalb er, Martin , auch nicht das geringste Mißtrauen gegen den Fremden gehegt habe. Auf Liese's Geheiß sei er nach dem Vorzimmer gegangen, habe aus dem Schrank ein Glas entnommen und es Liese übergeben. Danach habe er sein Lager im Stalle ausgesucht. Er verschwieg auch nicht seine in der Nacht gemachten Wahrnehmungen in Betreff der Schüsse und des denselben gefolgten schwachen Hülferufes.
Der junge Mann nahm die Aussage des Knechtes sorgfältig zu Protokoll.- Auf die Geschichte von den Wilderern und von den Schüssen im Walde legte er gleichfalls nicht das geringste Gewicht. Inzwischen hatte auch der Kreisphysikus sein Gutachten zu Papier gebracht. Er schob dem Kriminalbeamten das Schriftstück über den Tisch zu mit den Worten:
„So, hier ist mein Bericht über den Befund. Weiteres wird die Sektion der Leiche ergeben. — Haben Sie die Güte, für die baldige Transportirung nach dem Obduktionshause Sorge zu tragen."
Die letzten Worte waren an den Marktmeister gerichtet, welcher kerzengerade, die Hände an die Lenden gelegt, vor dem Arzte stand. Der Kom
missär schob sorgfältig das Schriftstück in den Protokollbogen und erhob sich dann, um sich in die Kammer zu begeben, in welcher die alte Magd auf dem Krankenbette lag.
Der Knecht übernahm es, die Männer zu führen. Liese lag mit starren, offenen Augen auf dem Bette. Das Dienstmädchen der Förstersleute stand daneben. Röhrling nahm eine kurze Untersuchung vor. Die Aufregung, die Angst und das Entsetzen hatten bei Liese einen Schlaganfall !
herbeigeführt, welcher den Verlust der Sprache, sowie vollständige Lähmung .
zur Folge gehabt hatte. Das Verhör der Magd war unter diesen Umstän- ' den ein äußerst mühevolles und zeitraubendes.
Liese vermochte nichts weiter, als einige schwache Bewegungen mit dem Kopfe zu machen. Während der Arzt ein Recept schrieb und das Dienst- ^ Mädchen mit der Besorgung desselben beauftragte, stellte der junge Polizeibeamte seine Fragen, die von der Hülflosen entweder bejaht oder verneint i wurden. Aber was sich aus ihrem schwerfälligen Lallen entnehmen ließ, waren die in einem eigenthümlich dumpfen Tone hervorgestoßenen Worte: „Eigener Sohn — Mord!" und sie wiederholte dieselben mit krampfhafter Anstrengung mehrere Male, so daß die Männer die Ueberzeugung gewannen wie dieser Eine Gedanke sie vollständig beherrschen müsse. Es war als j sollte sie dem marternden Einfluß desselben erliegen, so schmerzdurchzittert und verzweiflungsvoll stierte ihr bleiches Gesicht in die fremde Umgebung.
Die Schrecknisse der letzten Nacht standen lebhaft vor ihrem Geist: sie hatte i bis zum Morgen ruhig geschlafen, kein störender Laut, kein verdächtiges Ge- > rausch hatte ihren Schlaf unterbrochen. !
(Fortsetzung folgt.)