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italienische Arbeiter anzustellen. — Sämmtliches Militär — Infanterie, Kavallerie. Artillerie, ferner 300 Zollwächtsr, zwei Abtheilungen Gendarmerie — find für die Nacht aufgeboten; aus Aix und Tarascon sind die Garnisonen (sicher befördert worden. Die Forts sind militärisch besetzt. Alle Cafö's und Wirthschaflen werden Abends 9 Uhr geschloffen. Maueranschläge der Behörden mahnen die Bürger zur Ruhe. Trotzdem herrscht große Aufregung.
Marseille, 22. Juni. Das Zuchtpolizeigericht verurtheilte drei Personen wegen Mißhandlung von Italienern zu 2—3 Monaten Gesängniß.
Marseille, 22 Juni, Mitternacht. Die Lage ist im Ganzen befriedigend; die Truppen besetzen und überwachen noch die Hauptpunkte der Stadt; 64 Delegirte der Syndikatskammcr verfaßten in einer abend- licden Versammlung eine Proklamation, welche dis Drohungen und Gewaltakte mißbilligt und erklärt. die Urheber der Unruhen gehörten keiner Korporation an; sie verlangt ferner eine Untersuchung und fordert die Arbeiter auf. ruhig zu bleiben.
Italien.
Nom. 22 Juni. Gestern Abend fanden in Neapel, Turin und Genua Kundgebungen statt, um gegen die Vorfälle in Marse i l l e Einspruch zu erheben Die Truppen schritten ein, um Ruhestörungen zu verhüten.
England.
London, 20. Juni. Am Samstag entschied der Gerichtshof für re- servirte Kronrechtsfälls, die einzige Appellstelle in Kriminalsachen, daß der Herausgeber der „Freiheit", Johann Most, des ihm zur Last gelegten Vergehens der Aufreizung zum Morde rechtlich überwiesen sei. Der Verteidiger des Angeklagten führte nur den einen hinfälligen Ein- wand in's Feld. daß Most nicht eins bestimmte Person durch direkte und persönliche Beeinflussung zur Begehung des Mordes angeregt habe, sondern den Mord nur im Allgemeinen befürwortete; der Fall gehöre daher nicht in den Bereich des angewandten Gesttzparagrophen. Dem Kronanwalt wurde es nicht schwer, eine Auffassung zu bekämpfen, nach welcher es nur sträflich wäre, eine gewisse Person, nicht aber eine Menge Personen zum Mord anzureizen, und der Gerichtshof schloß sich der Ansicht des Kronan- walts an und bestätigte einhellig das erstrichterliche Urthrrl. Die Bestimmung des Strafausmaßes wird demnächst erfolgen.
Rußland
Petersburg. ;9. Juni. Gestern früh um 5 Uhr wurden unweit der steinernen Brücke (Erbsenstraße) im Kathariuenkanal bei dem Suchen nach der Leitung der früher gefundenen Mine durch Matrosen der Flußpolizei noch 2 mit schwarzem Dynamit gefüllte Guttaperchakissen nebst Zündkammern, Leitung rc aufgesunden. Da die Dynamitmaffs als vollkommen fest befunden wurde und die Stricks noch ganz neu waren, glauben die Sachverständigen, die Minen hätten erst sehr kurze Zeit im Wasser gelegen._
Schwnrgerichtsbezirk Tübingen. Tagesordnung für die Verhandlungen im zweiten Auartate des Jahres 1881.
l) den 30 Juni, Vorm. 9 Uhr: Strass, gegen den Haustier Joh. Gg. Brandstetter von Glems, OA. Urach, wegen vorsätzlicher Körperverletzung und dadurch verursachter Tödtung; 2) den 1. Juli, Vorm. 9 Uhr: Strass, geg. den Werksührer Hsinr. Deichler von Frankfurt a /O. wegen Versuchs eines Verbrechens wider die Sittlichkeit. 3) den 2. Juli, Vorm. 9 Uhr: Strass, geg. den Bauernknecht Joh. Mart. Eipper von Oeschelbronn, OA. Herrenberg, wegen Verbrechens wider die Sittlichkeit. 4) den 4. Juli, Vorm. 9 Uhr: Strass, geg. den Bierbrauer Karl Franz Schaumburg von Langeriburg, wohnh. in Metzingen, OA. Urach, u. Gen. wegen betrüglichen Bankerutts. 5) den 5 Juli, Vorm. 9 Uhr: Strass, gegen den Bäcker Herrn. Zimmerer von Unter Hausen. OA. Reutlingen, wegen gewinnsüchtiger Herbeiführung einer falschen Beurkundung. 6) den 6. Juli, Vorm 9 Uhr: Strass, geg. den Lumpensammler Joh. Christ. Eitel von Eningen OA. Reutlingen, wegen Meineids. 7) den 7. Juli. Vorm. 9 Uhr: Strass, geg. den Flaschner Rud. Schmid von Hechingen. wohnh. in Nottenburg. wegen versuchten Mords.
Tages-Neuigkeiten.
— Calw, 24. Juni. Ein eigenthümliches Schicksal entsührt uns seit einigen Jahren der Reihe nach unsere Beamten. So haben wir in kurzer Zeit das Oberamt, Dekanat, Betriebsbauamt, Oberamtsgericht neu besetzt gesehen und schon wieder verläßt uns ein allbeliedter Beamter, Herr Be- triebsinspektor Proß, der in derselben Eigenschaft einem ehrenvollen Rufe nach Friedrichshafen folgt. Eine große Zahl von Freunden des Scheidenden versammelte sich gestern Abend um denselben im Gasthose zum Waldborn, um dem Bedauern über feinen Weggang Ausdruck zu geben. Herr Oberförster Hepp hatte die Aufgabe übernommen, diese Gefühle des Bedauerns in Worts zu soffen, indem er daran erinnerte, wie Herr Proß seit 9 Jahren, d. h. von dem Tags an, an welchem wir der Eisenbahn Lheilhaftig geworden, die Fäden des Verkehrs in umsichtiger Hand gehalten, wie er durch seine liebenswürdige Gefälligkeit sich die allgemeine Liebe und Achtung erworben, wie er ein belebendes Element in der Gesellschaft gewesen, in der er noch lange werde vermißt werden, und ein freudiges Hoch gab lauten Beweis von der Zustimmung zu den ausrichtigen Glück- und Segenswünschen, die er dem scheidenden Freunde darbrachte. Herr Amtsrichter Deckingsr pries die Frau des Scheidenden, deren edle Eigenschaften er in persönlichem Umgänge kennen gelernt und die als Gattin und Mutter ein schönes Vorbild gewesen; sein Hoch galt der Familie und insbesondere der Frau und fand den lautesten Wiederhall. Die Dankesworte des Herrn Proß auf diese Beweise der Anerkennung und Liebe durch- . zitterte sichtbar ein Gefühl der Wehmuth über sein Scheiden aus dem ihm
so lieb gewordenen Kreise und wir glauben es ihm gerne, daß er beim einstigen Wiederkommen unserem schönen Thals einen tausendfältigen Gruß entgegenrusen wird. Daß auch der glückliche Humor unseres Gelegenheits- dichters, des Herrn Rektor Dr. Müller, dessen launigen Reimen Wirbel solchen Veranlassungen so gerne begegnen, zum gelungenen Ausdruck kam, dürfen wir nach den Vorgängen beinahe als selbstverständlich bezeichnen.
Da Herr Proß ein warmer Freund des Gesanges war, konnte der Abend natürlich nicht ohne Liedersang vorübergehen und manch schönes Abschiedr- lied durchtönte in vollem Männerchor die warme Abendluft. Der ausdrücklichen Versicherung, daß Hr. Proß bei uns in bestem Andenken bleiben wird, bedarf es kaum, wie auch wir hoffen und wünschen, daß sein Aufenthalt in Calw ihm stets eine angenehme Erinnerung bleiben möge.
— Aus Nieder st otzingen wird geschrieben. Daß viele Menschen durch Dresch- und Futterschneidmaschinen verunglücken, kann man leider nur zu oft lesen. In den meisten Fällen sind es die Hände, welche in zu nahe Berührung mit den gefährlichen Maschinen kommen. Daß aber auch das edle Hintertheil in Gefahr kommen kann, mußte vor kurzer Zeit ein hiesiger Bürger erfahren. Derselbe kam in gebückter Stellung mit bewußtem Körpertheil dem scharfen Messer der Futterschneidmaschine zu nahe, welches ihm eine so tiefe Wunde beibrachte, saß der Arzt sie zunähen mußte.
Da die Heilung glücklich und rasch verlies, so erregte die Sache viel Heiterkeit. — Das neugeborene Kind, welches jüngst in Schorndorf gefunden wurde und dann auf unerklärliche Weise wieder verschwunden war, hat man neuerdings im Zinderlessee als Leiche wieder gefunden.
— Heilbronn, 21. Juni. Seit 17. d. Mts. befindet sich Stadt- schultdeiß M a r q u a r d t von Künzelsaa , früher Freiherriich v. Tessin'- scher Rentamtmann in Hochdorf, OA. Vaihingen, im hiesigen landgerichtlichen Gesängniß in Untersuchungshaft. Er ist angeschuldigt, ein ihm zur Verwaltung anvertrautes Vermögen im Betrag von ca. 120,000 beinahe vollständig veruntreut zu haben. Er scheint sich seit Jahren in Spekulationen der zweifelhaftesten Natur eingelaffen zu haben, welche auch seinen eigenen Vermögenszerfall nach sich zogen.
— Jngelfingen. (Eine neue Bittersalzquelle.) Vor einer Reihe von Jahren wurden hier, allerdings erfolglos, Bohrungen nach Steinkohlen angestellt; bei denselben traf man unterhalb des Kirchhofs k eine Billersalzquelle. Damals schenkte mancher dieser Sache kein ? Gehör, galt es doch, werthvolleres Material zu finden. Erst später, als , längst alle Hoffnung, Steinkohlen zu finden, aufgegeben war, errinnerte ! man sich wieder an die Bittersalzquelle. Es wurden nun im Auftrag und
„Du kennst die Rücksichten, aus denen ich die Oeffentlichkeit meide," antwortete sie im Tone wehmüthigen Schmerzes. „Aber bleibe von diesem Augenblicke an bis zu unserer Abreise bei mir, und bist Du dann nicht vollständig befriedigt, kannst Du mir Dein volles Vertrauen nicht zurückgeben, so füge ich mich in jeder Beziehung Deinem Willen. Die so eben stattgehabte Unterredung werde ich vergessen — ich verspreche es Dir! Behalte den Brief, Du wirst seiner bald bedürfen!"
Der Stolz des Ehemannes und die Eifersucht des Liebhabers ließen ihn schweigend einwilligen. Nachdem Meta gemeldet. daß der bestellte Wagen angekommen sei, bot Philipp seiner Frau den Arm und führte sie hinunter. Während des ganzen Tages bewiesen sich die beiden jungen Leute jene Aufmerksamkeiten, die nicht völlig frei von Affectation sind. Ihre Blicke verriethen eine erzwungene Heiterkeit, welche diejenigen zu erkünsteln sich bemühen, die sich selbst täuschen wollen. Philipp konnte trotz der erhaltenen Versicherungen seine Zweifel nicht verbannen, und Josephine, die den Zustand ihres Gatten zu beurtheilen vermochte, empfand Besorgnisse und ein inniges Mitleiden. Aber Beide hegten ein gegenseitiges Vertrauen. sie liebten und hatten sich zu rein geliebt, als daß sie nicht aus eins glückliche Lösung der Dinge hoffen sollten. Josephine beobachtete mit klugem Takts ein Benehmen, das den Verdacht von ihr entfernte,'als wollte sie den Argwohn ihres Garten durch übergroße Zärtlichkeiten einschläfern. Eine schmerzliche Freundlichkeit verrieth, daß es ihr einige Ueber- windung kostete, das gegebene Versprechen zu halten. Sie machte die Zeit der Rückkehr von Philipp abhängig, und dieser schob sie so weit als möglich hinaus. Es war 10 Uhr Abends, als sie die Stadt wieder erreichten. Nach dem Abendessen wollte Philipp sich entfernen.
„Wohin?" fragte sie lächelnd.
„Nach meiner Wohnung!"
„Dort ist Dein Schlafzimmer, Philipp; es wird durch eine Thür von dem meinigen getrennt. Hast Du unser neues Uebereinkommen vergessen?"
„Ich Habs mir vorgenommen, Dir ferner nicht mehr zu mißtrauen."
„Und Deine Frau fordert von Dir, daß Du bleibst. Sie wird die Gewährung dieser Forderung für den Beweis halten, daß Du sie nicht für schuldig hältst! In Deiner Wohnung weiß man, daß Du auf einige Zeit verreist bist," I
„So füge ich mich, weil Du es willst!" s
Philipp zitterte unter dem Kusse, den ihm das reizende Weib zur > guten Nacht auf den Mund drückte. Er betrat sein Schlafgemach und ! machte seine Nachttoilette. In welcher sonderbaren Lage befand er sich!
Er war ein Gast bei seiner eigenen Frau und zugleich ihr Hüter. Tausend Gedanken, tausend Vermuthungen durchkreuzten seinen Kopf. Was kann sie beabsichtigen? fragte er sich. Warum treibt sie mit einem Dritten ein Spiel, das mir urckk ihr gefährlich werden kann? — Er zog noch einmal den Brief hervor, dm er in seiner Tasche verwahrt hatte, und las ihn. Dann blieb er gedankenvoll in dem Sessel sitzen. Und war es auch nur ein Spiel, das sie trieb, er bemächtigte sich seiner ein Schmerz, den die Erinnerung an das bisher genoffene Glück vermehrte. Aber die trauernde Liebe, der die feste Ueberzeugung des nur augenblicklich getrübten Glücks bleibt, gewährt eine bald freudige, bald schmerzliche Wollust, und Philipp empfand diese Wirkungen in einem Maße, daß ihn der Schlaf floh.
(Fortsetzung folgt.)