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Herren vom Cmlrum. In unmittelbarer Nähe des Reichskanzlers saß u. a. Frhr. v. Ow. Aus der Unterhaltung ist hervorzuheben, daß der Kanzler mit besonderem Nachdruck erklärte, er betrachte das Unfallver- ficherung-gesetz nur als einen ersten Schritt sozialer Reformen, welchem eine Reihe anderer, wie namentlich ein Alterversorgungsgesetz, folgen müßten. Einer der Herren, welche^« der Unterhaltung theilnahmen, regte die Frage an, woher zu allen di "dingen das Geld kommen solle, worauf der Reichskanzler namentlich die Tabaksteuer als Quelle dafür bezeichnet«. Als Frhr. v. Om hierauf einwendete, die Süddeutschen namentlich hätten von den höheren Einnahmen aus dem Tabak die Beseitigung der Matri- kularbeiträgs erhofft, meinte Fürst Bismarck, diese Remedur müsse der Gelränkesteuer überlaffen bleiben „Mehr Geld, meine Herren, mehr Geld!" Mit diesen in scherzhafter Weise ausgesprochenen Worten verabschiedete der Reichskanzler seine Gäste.
— In die Reichstagskommission für den Nachtragsetat für das Reichs- ümt des Innern (Deutscher Volkswirthschaftsrath) ist der Abgeordnete Stälin gewählt.
— Berlin, 28. Mai. In der Fortsetzung der Berathung des Stem- pelgesetzes wird bei Tarif-Nr 2 für Schlußnoten und Rechnungen der Steuersatz für Schlußnolen nach dem Kommissionsantrag, der Steuersatz für Rechnungen. Noten. Verzeichnisse u. s. w. nach dem Antrag Wedel! genehmigt, wonach .der Stempel nicht 10 ^ , sondern Vig pro Mille beträgt.-
Ferner wurden, dem KommisfionSantrage entsprechend, die Tarisposi- tionen jür die Lombarddarlehen. Quittungen, Checks und Giroanweisungen abgelehnl, dagegen die Besteuerung der Lotterieloose, sowie die übrigen Paragraphen des Gesetzes noch den Kommissionsonträgm genehmigt.
Schließlich wurde die beantragte Resolution wegen Aushebung der Staatslotterien im deutschen Reiche berathsn, dis Abstimmung aber der dritten Lesung Vorbehalten.
— Berlin, 3V. Mai. Der Reichstag genehmigte in seiner gestrigen Abendsitzung den Mehlzsll nach der Regierungsvorlage mit dem Antrag Heeremann's. betreffend den Identitätsnachweis bei der Mehlaussuhr. Die Berathung des Wollgewebezolles wird wegen Beschlußunsähigkeit des Hauses schließlich vertagt.
— Hamburg, 28. Mai. Eine Mittheilung des Senats an die Bürgerschaft bezeichnet als hauptsächlichen Inhalt des Berliner Abkommens, daß Hamburg ein bestimmter Freihafenbezirk dauernd verbleibt welcher unter dem Schutz des Artikels 34 der Reichsverfassung steht und frei ist von jeder Zollkontrolle; auch den im künftigen Zollgebiet belegenm Exportindustrien sind für den Fortbetrieb erforderliche E r l e i ch t e r u n g e n in Aussicht gestellt. Der Zollanschluß ist auf den Zeitpunkt nach dem t. Oktober 1888 festgesetzt, die Zollverwaltung geht dann auf dis hamburgischen Behörden über. Die Benutzung der Zollflaggs für Seeschiffs ist durch Beschluß des Bundesraths nach Hamburgs Wünschen geregelt. Von den Kosten für die erforderlichen Bauten übernimmt das Rnch die Hälfte, in Maximo 40 Millionen. Der Gesammteitrag der Nachsteuer fällt Hamburg zu.
Frankreich.
Im Senat scheint die Agitation gegen das Listenskrutinium steigende Proportionen anzunehmen. Die republikanischen Fraktionen haben jetzt darüber berathen. Die „Union Republikaine" allein ist entschieden dafür. Die Linke nimmt nur unter Modifikation der Bestimmungen über die Anzahl oer Deputirten das neue Wahlsystem an. Das linke Centrum hat sogar nach lebhafter Debatte, an der der frühere Minister Waddington einen entscheidenden Antheil nahm, einstimmig das Listenskrutinium verworfen. Auf der Rechten zählt man kaum 30 Mitglieder dafür. Eine Möglichkeit der Verwerfung resp. der Amendiiung des Gesetzes ist also vorhanden. Die opportunistischen Blätter verdoppeln in Folge dessen ihre heftige Polemik gegen diese Widerstands-Velleitäten des Senats, deren Erfolg einen Konflikt mit der Kammer unausbleiblich machen würde
In den Gefechten vom 25. und 26. Mai mit den Krumir haben die französischen Truppen dem Feinde bedeutende Verluste beigebracht, während sie selbst nur neun Verwundete auf ihrer Seite ongeben. Der Widerstand der Krumir wird schwächer. Die französischen Truppen leiden jetzt unter der starken Hitze, die auf 38 Centigrad im Schatten stieg; es kommen viele Fälle typhösen Fiebers vor.
Italien.
Rom, 28 Mai. Das Kabinet hat sich kovflituirt und setzt sich in folgender Weise zusammen: Depretis Präsidium und Inneres, Mancini Aeußeres, Zanardelli Justiz, Magliani Finanzen. Baccarini öffentliche bezten, Baccelli Unterricht, Berti Ackerbau, Ferrero Krieg und Acton Marine. Dis Vereidigung der Minister erfolgt heute Vormittags. Die Kammer wird in nächster Woche wieder zusammentreten.
Rußland.
JnBereszowce im Chersoner Gouvernement haben die Juden aus Furckt vor den Kazappenbanden selbst die Fensterscheiben ihrer Wohnungen eingeschlagen, ihre Möbel vernichtet und auf die Straße geworfen. Die angekommenen Banden glaubten, die Häuser der Juden wären bereits ausgeplündert, und zogen weiter, erfuhren jedoch spctter die gebrauchte List, erschienen folgenden Tages abermals und richteten furchtbare Verheerungen in den Judenhäusern an. Zahlreiche Juden sollen schwer verwundet worden seim_
Tages Störrigkeiten.
— Calw, 31. Mai. Ein schweres Leid ist gestern über die Familie des Wirths und Bäckers Chr. Jäger in Hirsau gekommen. Gestern Morgen um 8 Uhr ging dessen 1^ I. alter Knabe in Begleitung seines 4jährigen Bruders auf die am Hause vorbeiführende Wildbader Straße hinaus, als in demselben Augenblicke der Fuhrmann Kras ft von Eberspiel mir einem Langholzwagen vorüberfuhr. Der Fuhrmann war bei den Pferden und sein Sohn an der Mügge. der Wagen scheint aber ohne besonderen Grund nicht auf der Mitte der Fahrbahn geblieben zu sein, denn das Kind kam in einer roch nicht aufgeklärten Weise derart unter den Wagen, daß ihm vom hintern Rad aus den Randsteinen, die den eigentlichen Straßenkörper vom Fußpfade trennen, der Kopf abzetrennt wurde, und sofort der Tod cintrat. Der Jammer der vom älteren Knaben herbeigerufenen Mutter und des Vaters, dessen Liebling der muntere Junge war und der Morgens 7 Uhr in Geschäften nach Stuttgart gefahren und durch ein Telegramm „wegen Uaglückslalls" zurückgerufen um 6 Uhr Abends über Pforzheim nach Hause kam. läßt sich nicht beschreiben und es ist in solchem Unglück, wenn auch nur ein schwacher, doch immerhin einiger Trost, daß sich die so schwer betroffenen Eltern der allgemeinsten Thecknahme versichert halten dürfen. Welche Schuld den Fuhrmann trifft, der die Kinder wohl gesehen zu haben zugibt, dieß wird vielleicht die gerichtliche Untersuchung ergeben.
— Böblingen. 29. Mai Gestern früh 4 Uhr wollte Stationskommandant W i ck einen des Holzdiebstahls verdächtig-m Fuhrmann in Schönaich in seiner Wohnung verhaften; derselbe entwifchte im Hemd und versteckt- sich in der Scheune. Als man ihn dort aufsuchle, gelang es ihm. durch eine Ocffnung ins Freie zu enlkommen. und nun flüchtete er sich, blos mit einem Hemd bekleidet, unter strömendem Regen in den Wald. Bis jsitzt ist er noch nicht beigebracht. — Einem hier kurstrenden Gerücht zufolge soll der Leichnam des vermißten Viehhändlers Wertheimer im benachbarten Rohrer Wald durch eine Frau, welche Maiblumen pflückle, gefunden worden sein.
— S lut t g a r t, 30. Mai. Die Ausstellung erfreut sich immer eines über alles Erwarten zahlreichen Besuches (z. B. gestern über 11,0o0). An Durst scheint es den Gästen auch nicht zu fehlen, in den ersten 10 Tagen wurden 38,000 Liter Bier verkauft. Da die Unternehmung 5 L per Liter Nutzen hat, so macht dies schon eine hübsche Lumme aus. An Champagner, der bekanntlich in der Abtheilung für Genußmittel glasweise ausgeschenkl wird, werden durchschnittlich per Tag 40 Flaschen konsumirt.
— Ein eigenthümliches Mißgeschick ist dieser Tage einem AuswanderungS-
Feuilleton.
Eine seltene Frau.
Von A. S.
(Fortsetzung.)
IV
Am Tage, der der beabsichtigten Soiree voranging, kam Philipp von seiner Gattin. Der Aufenthalt in Leipzig hatte nicht nur seine Liebe, spndern auch seine Achtung und sein Vertrauen erhöht; Josephine war für ihn das Ideal einer Frau, und hätte man die fabelhaftesten Gerüchte von ihr verbreitet, er würde ihnen eben so wenig Glauben geschenkt haben, als sich die Eifersucht in ihm regte. Ein Charakter wie Jcsephine, war keiner Unredlichkeck fähig. Philipp hatte also seine Gattin verlassen, um sie in den Vorbereitungen zu dem Feste nicht zu stören. Als er die Thür des Gitters schloß, das das Haus umgab, trat ihm ein Mann entgegen, dessen ganze Ausmerlsamkeit rach den Fenstern Josephine'S gericht-t war. Er trug höchst elegante Kleider, war von schöner, hochgewachsener Gestalt und hatte ein fein gebildetes GesiLt mit einem kleinen blonden Barte. Die beiden Männer begegneten sich.
„Verzeihung, mein Herr," redete ihn der Fremde höflich an. indem er seinen Hui zog, „sind Sie in dem Hause bekannt, das Sie so eben verlassen haben?"
„Ich glaube, ja I" antwortete Philipp.
„Man sagte mir, daß eine Madame Lindsor hier wohnen müsse."
„Ganz recht, sie bewohnt den ersten Stock dieses Hauses."
Der Fremde dankte, öffnete das Gitter und verschwand. Ein unbestimmte« Gefühl, das sich indiß mehr der Neugierde als der Eifersucht
zuneigte, hemmte Philipp's Schritte. Wenn man die heimliche Ehe, die Schönheit Josephinen's und die verschiedenen Gerüchte über ihre Pecson und ihr Vermögen bedenkt, so kann man sich nicht darüber wundern, daß Philipp, trotz seines Vertrauens, einen Spaziergang vor dem Hause unternahm. um die Rückkehr des fremden jungen Mannes zu erwarten Er hielt es selbst als Gatte für seine Pflicht, da es- nicht unmöglich war, daß die reiche, alleinstehende Wittwe — für die sie gehalten ward — mit ungebührlichen Anträgen bestürmt würde.
In Josephinen's Zimmer zeigte sich Licht, und die Vorhänge wurden Herabgelasien. Philipp ging eine Vierlelstunde auf und ab, ohne die Thür außer Acht zu lassen. Das war e»ne Zeit, um mehr als einen Auftrag auszurichten. Wie gern hätte er das Haus betreten, und er sann auch schon auf einen schicklichen Vorwand dazu; aber was sollte Josephine von seiner Rückkehr denken, da er ihr gesagt, daß er erst am folgenden Morgen wiederkomwen würde? Noch war er zu stolz, um Eifersucht zu zeigen, und Josephine stand ihm zu hoch, zu heilig, um sie durch Verdacht zu kränker.
„Was sie wohl gethan haben würde," fragte er sich, „wenn der Fremde während meiner Anwesenheit gekommen wäre? Ob sie mir morgen den Besuch mittheilt? O gewiß, sie hat keine Geheimnisse vor mir! Fast schäme ich mich, daß ich sür Josephine so entehrende Schlüsse ziehe. Sie hat mich aus reiner, uneigennütziger Liebe geheirathet, der klarste Beweis davon ist die Wiedererstattung des Vermögens, die sie so dringend betreibt.
Das Geräusch der Thür ließ sich vernehmen und der junge Mann kam eilig heraus. Philipp trat hinter einen Baum, um, sich seinem Anblicke zu entziehen. Dann folgte er ihm in kurzer Entfernung. Der Fremde hielt einen vorüberfahrenden Fiaker au. stieg ein, und verschwand. Philipp lächelte über seine Schwachheit und ging ruhig nach Hause.
(Fortsetzung folgt.)